„Rassenschande“-Prozess des Landgerichts Lüneburg

VVN-BdA Lüneburg

Erneut veröffentlicht die VVN-BdA-Lüneburg eine Schrift zur üblen Rolle der Lüneburger Justiz während des Naziregimes

Eine neue Veröffentlichung über die unheilvolle Rolle der Lüneburger Justiz während des NS-Regimes legt die VVN-BdA Lüneburg vor. Unter dem Titel „‘Der Angeklagte ist danach überführt, mit einer Volljüdin geschlechtlich verkehrt zu haben.‘ Zum „Rassenschande“-Prozess des Landgerichts Lüne-burg gegen Heinrich Kistner. Opfer und Täter“ schildert sie die tragische Geschichte der Familie Salo-mon/Kistner und berichtet über die Tätergemeinschaft der Lüneburger Justiz.

  Als die 30-jährige Ruth Salomon am Dienstag, den 10. Oktober 1939 am Vormittag gegen 10.00 Uhr die Schalterhalle des Lüneburger Postamts am Marienplatz betrat, ging sie ihre letzten Schritte in Freiheit. Ruths weitere Lebensstationen: Gefangennahme, Haft im Strafgefängnis Hamburg-Fuhlsbüttel bis 1941, anschließend Konzentrationslager Ravensbrück. Dort wurde sie im März 1942 ermordet. Auch ihr gleichaltriger Lebenspartner, Heinrich Kistner, wurde auf Anordnung der Lüneburger Polizei an diesem 10.10.1939 verhaftet. Die gemeinsamen Kinder Maria und Heinz, drei und fünf Jahre alt, wurden in ein Kinderheim verbracht und einem Jugendamt deren Vormundschaft übertragen. Heinrich sperrte die NS-Justiz in zahlreiche Gefängnisse, Justiz-Gefangenenlager und Zuchthäuser. Als er am 15.11.1943 aus dem Zuchthaus Siegburg entlassen wurde, war der früher körperlich gesunde Mann stark abgemagert, hatte durch die Haft zahlreiche Körperschäden davongetragen und war ein völlig gebrochener Mensch.

  Den Lebensweg dieser vier Personen zeichnet diese Schrift auf: Das Aufwachsen und spätere Kennenlernen des jungen Paares, ihr zunächst recht glückliches Zusammenleben, die gemeinsame Zeit mit ihren 1934 und 1935 geborenen Kindern.

  Diese Familiengeschichte nahm eine furchtbare Wende, weil sie sich während des deutschen Faschis-mus zutrug: Ruth war eine junge Frau, die von den Nazis als „Jüdin“ definiert und rassistisch verfolgt wurde, ihr Partner Heinrich als „Rassenschänder“. Die Autoren zeigen die Bedrängnis, in die das Paar durch die NS-Rassengesetze geriet, ihre Flucht von Ort zu Ort, um den Verfolgern zu entkommen, ihre zunehmende Verarmung dabei und ihre Betrügereien, um der Entdeckung wenigstens für einige Zeit zu entgehen. Die Broschüre nennt aber auch die Ursachen dieser Verfolgung: Den Rassismus der Nationalsozialisten und ihre „Nürnberger Gesetze“ als Voraussetzung, Schutzhaft, Gestapo und Konzentrationslager als Instrumente zur Liquidation der jungen Mutter, Richter und Staatsanwälte zur Exekution der Nazi-Politik in „Rassenschandeverfahren“ der Justiz gegenüber dem nichtjüdischen „tatbeteiligten“ Vater.

  Ebenso wie über die Nazi-Opfer der Familie Salomon/Kistner berichtet die Schrift über das perfide Bemühen der Herren Emmermann, Severin, Finke, Kumm und Kliesch als Richter und Staatsanwälte am Lüneburger Landgericht, den von ihnen als „Rassenschänder“ ausgemachten Heinrich Kistner zur Strecke zu bringen.
Als „Vergangenheit, die nicht vergeht“ musste Heinrich Kistner die Zeit nach der Befreiung 1945 erleben: Seine einstigen Peiniger am Lüneburger Landgericht wurden für ihre Justiz-Verbrechen nicht zur Rechenschaft gezogen. Sie befanden sich sogar weiter als honorige Persönlichkeiten des Lüneburger Bürgertums, jetzt zu „Demokraten“ mutiert, in ihren alten Ämtern. In dieser Atmosphäre einer selbstdefinierten Schuldlosigkeit der Lüneburger Tätergemeinschaft stieß das Bemühen Kistners auf Anerkennung als NS-Opfer auf größte Schwierigkeiten, denn eine solche Rehabilitierung bedeutete zugleich das Eingeständnis einer Täterschaft und die Benennung der Täter.

  Als einen der Haupttäter im Fall Kistner identifizieren die Verfasser Landgerichtsrat Dr. Carl Emmer-mann. Er führte den Vorsitz im „Rassenschande“-Prozess im Juni 1940 und verurteilte Kistner zu 2 Jahren Zuchthaus. Sein beruflicher Aufstieg und seine richterliche Tätigkeit als Nazi-Jurist am Lüneburger Landgericht wird in der Schrift ebenso geschildert wie sein Wiedereinstieg nach 1945 in glei-cher Funktion – nun hier tätig ausgerechnet als Vorsitzender der Entschädigungskammer am Landge-richt. Jetzt verhinderte er im Zusammenspiel mit seinen früheren NS-Justizkumpanen, dass Heinrich Kistner in den 1950er Jahren keine nennenswerte finanzielle Entschädigung für das ihm in der Nazizeit gerade auch von Carl Emmermann angetane Unrecht erhielt. Der Richter selbst profitierte dagegen finanziell immer noch von seinen NS-Verbrechen: Seine Zeiten als richterlicher Nazi-Täter wurden ihm als Dienstaltersvergütung auf sein Richtergehalt hinzugerechnet.
 
Die Veröffentlichung der Lüneburger VVN-BdA versteht sich als ein Beitrag zur Aufdeckung der unheilvollen Rolle der Lüneburger Justiz während des NS-Regimes. Darüber hinaus weist sie auf die Restaurationsphase der kleinstädtischen Nachkriegsgesellschaft hin, ein bislang wenig beachtetes Kapitel der Lokalgeschichte.

  Die Broschüre ist in Lüneburg zum Selbstkostenpreis von 5,00 Euro erhältlich im Cafe Avenier, Katzenstraße, oder auf Rechnung zum Preis von 7,00 Euro (incl. Porto) zu bestellen unter vvn-bda-lueneburg@vvn-bda-lg.de.